Massenentlassung à la Twitter auch in Deutschland möglich?

Massenentlassung à la Twitter auch in Deutschland möglich?
© Brett Jordan - unsplash.com

Der Unternehmer Elon Musk kündigte nach seiner Twitter-Übernahme mehreren der dort (in den USA) 7.500 Beschäftigten per E-Mail mit sofortiger Wirkung und den übersetzten Worten „Heute ist Ihr letzter Arbeitstag in diesem Unternehmen“. 

Wäre ein solches Vorgehen auch in Deutschland möglich? Die Antwort lautet wie so oft: es kommt darauf an. Das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) bietet Arbeitnehmer:innen grundsätzlich einen sehr hohen Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen. Neben den Schutzmechanismen, die auf alle Kündigungen Anwendung finden, werden u.a. in § 17 KSchG weitere Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Kündigung festgeschrieben, wenn der Arbeitgeber mehrere Arbeitnehmer:innen auf einmal entlassen will. Man spricht dann von einer sog. Massenentlassung. Das dort geregelte gesetzliche Verfahren hat in letzter Zeit an Relevanz gewonnen und war vermehrt Gegenstand der neuesten arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung.

Massenentlassung – Voraussetzungen und Verfahrensablauf

Damit eine Massenentlassung im Sinne des KSchG vorliegt, sind in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bestimmte Schwellenwerte geregelt. Die Verfahrensvorschriften gelten erst für Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmer:innen und nur dann, wenn davon mehr als 5 Arbeitnehmer:innen entlassen werden sollen. Diese Anzahl an Entlassungen (bzw. vom Arbeitgeber veranlasste Beendigungen des Arbeitsverhältnisses) müssen innerhalb eines Zeitraumes von 30 Kalendertagen erfolgen. Die Schwellenwerte werden hochgestuft bei Betrieben mit mindestens 60 Arbeitnehmern. Dann gilt der Grenzwert von Entlassungen von 10% der Belegschaftsstärke bzw. mehr als 25 Arbeitnehmer:innen. Sind im Betrieb mehr als 500 Arbeitnehmer:innen beschäftigt ist der Grenzwert bei 30 Entlassungen erreicht.

Die einzelnen Verfahrensschritte sind arbeitgeberseitig zu durchlaufen, bevor die Kündigungen erklärt werden können. Das einzuhaltende Verfahren setzt sich aus zwei großen Teilen zusammen: 

  1. Der Arbeitgeber ist verpflichtet mit dem Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG ein Konsultationsverfahren durchzuführen. Der Betriebsrat muss weiterhin unterrichtet werden, ihm sind bestimmte Auskünfte zu erteilen und es muss eine Beratung stattfinden
  1. Gleichzeitig ist gem. § 17 Abs. 1, 3 KSchG die Bundesagentur für Arbeit zu unterrichten

Sinn und Zweck dieser Vorschriften ist zum einen die Vorbereitung der zuständigen Arbeitsbehörden darauf, dass dem Arbeitsmarkt in Kürze eine größere Anzahl an Arbeitslosen zur Verfügung steht. Es soll die Möglichkeit gegeben werden, rechtzeitig entsprechende Maßnahmen zu treffen. Zum anderen sollen die einzelne Arbeitnehmer:innen durch das geregelte Verfahren besonders geschützt werden. Vor allem durch die Beteiligung des Betriebsrats soll die Wahrung ihrer Rechte sichergestellt werden.

Fallbeispiel „Air Berlin“

Dass dieses spezielle zwingend vorgeschriebene Verfahren in der Praxis eine häufige Fehlerquelle für Kündigungen ist, zeigt jüngst das anschauliche Beispiel der Massenentlassungen bei Air Berlin. Erst beim zweiten Anlauf hat das BAG die Kündigungen des Kabinenpersonals der insolventen Fluggesellschaft für wirksam erklärt (BAG vom 08.11.2022, 6 AZR 15/22). Bei der ersten Kündigungswelle scheiterte die Wirksamkeit einzig an der Ordnungsgemäßheit der Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 1, 3 KSchG. Der Arbeitgeber hatte diese bei der örtlich unzuständigen Behörde eingereicht.

Dass diese falsche Anzeige gleich so schwer wiegt und weitreichende Folgen hat, hat einen ganz bestimmten Grund. Verstößt der Arbeitgeber gegen eine Vorschrift, die speziell den Schutz der Arbeitnehmer:innen bezweckt, verstößt er damit auch gegen ein gesetzliches Verbot im Sinne des § 134 BGB (BAG vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11). Dies führt zur Nichtigkeit der einzelnen Kündigungen, weil nicht sichergestellt werden kann, dass die Belange der Arbeitnehmer:innen ausreichend berücksichtigt wurden. 

Eine weitere Besonderheit ergibt sich daraus, dass § 17 KSchG auf der unionsrechtlichen Massenentlassungsrichtlinie basiert und somit entsprechende Vorgaben beachtet werden müssen. Im Beispiel Air Berlins war für die Unwirksamkeit ursprünglich ausgesprochenen Kündigungen gerade das Unionsrecht ausschlaggebend. Die Anzeige bei der falschen Behörde ist nur erfolgt, weil der Arbeitgeber nicht den (weiten) unionsrechtlichen Betriebsbegriff zugrunde gelegt hat und somit den Standort des Betriebs fälschlicherweise in Berlin statt in Düsseldorf verortet hat. 

Werden mehrere Kündigungen gleichzeitig oder innerhalb eines kurzen Zeitraums aufeinander folgend ausgesprochen, lohnt sich auf Arbeitnehmerseite stets ein genauer Blick auf die sog. Massenentlassungsanzeige sowie die Prüfung der einzelnen Voraussetzungen des § 17 KSchG. Durch seine generelle Undurchsichtigkeit und die daraus resultierende Fehleranfälligkeit bietet das Verfahren, welches arbeitgeberseitig bei Massenentlassungen einzuhalten ist, für einzelne Arbeitnehmer:innen eine große Angriffsfläche und gute Chancen, die Unwirksamkeit der Kündigung gerichtlich geltend zu machen.

Eva Ratzesberger

EuGH-Vorlage – Einordnung des Normzwecks entscheidend

Wie entscheidend der Zweck der Vorschrift ist und welche Rolle das Unionsrecht dabei spielt, zeigt auch die folgende aktuelle Problematik, welche nun Gegenstand einer Vorlage des BAG an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist (BAG vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21): Ein Unternehmen mit ca. 190 Arbeitnehmer:innen wurde insolvent und wollte den Betrieb stilllegen. Der Arbeitgeber führte ein Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren nach den Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) durch, jedoch kein separates Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG. Auch die Unterrichtung an die Bundesagentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG blieb aus. Die Verletzung letzterer Vorschrift rügte ein entlassener Arbeitnehmer und sah seine Kündigung deshalb als unwirksam an. 

Entscheidend für die Beurteilung dieser Frage ist, wie der EuGH diese Vorschrift einordnet. Er soll klären, welchen Zweck die Übermittlung an die Bundesagentur für Arbeit hat, da § 17 Abs. 3 KSchG der Umsetzung der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG aus dem Jahre 1998 dient. Sieht der EuGH den Zweck der Vorschrift als Arbeitnehmerschutz an, muss ein Verstoß dagegen in Konsequenz zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Dient Norm jedoch rein der Information der Bundesagentur für Arbeit, ist ein Verstoß für den Arbeitnehmer irrelevant und die Wirksamkeit der Kündigung würde dadurch nicht berührt.

Eva Ratzesberger

Fachanwältin für Arbeitsrecht *

Rechtsanwältin Eva Ratzesberger ist bei AfA in allen Angelegenheiten des Individual- und Kollektiv-Arbeitsrechts tätig. Neben der bundesweiten Vertretung von Betriebsräten in arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren, in Einigungsstellen sowie bei Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen berät sie diese bei der Erstellung von Betriebsvereinbarungen.

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