Tarifeinheitsgesetz auf dem Prüfstand – Mit Grundgesetz (teilweise) nicht vereinbar
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sorgt mit seinem am 11. Juli 2017 verkündeten Urteil zum Tarifrecht für mehr Unsicherheit als Klarheit. Die höchsten deutschen Richter hatten über die Verfassungsbeschwerde mehrerer Spartengewerkschaften zu entscheiden. Es ging um die Verletzung ihrer Koalitionsfreiheit durch das Tarifeinheitsgesetz, genauer durch die Regelung zur Tarifkollision. Ihrer Auffassung nach sei § 4a TVG verfassungswidrig.
Soweit wollten die Verfassungsrichter mehrheitlich zwar nicht gehen. Dem Gesetzgeber wurde aber aufgegeben, die Belange der kleineren Gewerkschaften bei Tarifkollisionen angemessen zu berücksichtigen, um die Interessen derjenigen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, auch weiterhin ausreichend sicher zu stellen. Wie das konkret geschehen soll, darüber schwiegen sich die Karlsruher Richter aus. Sie stellten klar, dass über noch offene Fragen die Arbeitsgerichte zu entscheiden haben.
Worum geht es genau?
Das am 10. Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz regelt, was gilt, wenn der Arbeitgeber in einem Betrieb an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gleichzeitig gebunden ist. Es ordnet an, dass der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft von dem Tarifvertrag der im Betrieb mitgliederstärkeren Gewerkschaft verdrängt wird, soweit sich ihre Geltungsbereiche überschneiden (§ 4a Abs. 2 Satz 2 TVG). Der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft soll dann nicht mehr zur Anwendung kommen. Getreu dem alten Grundsatz: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag.“
Um die mit der Verdrängung eines Tarifvertrages verbundenen Folgen abzumildern, kann die kleinere Gewerkschaft vom Arbeitgeber (verband) die „Nachzeichnung“ der Rechtsnormen des mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifvertrags verlangen (§ 4a Abs. 4 Satz 1 TVG). Arbeitnehmer der Minderheitengewerkschaft im Betrieb sollen sich so ebenfalls auf die Rechte aus dem Mehrheitstarifvertrag berufen können.
Um unzumutbare Härten zu vermeiden, dürfen zudem bestimmte tarifvertraglich garantierte Leistungen, wie Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder Lebensarbeitszeit nicht verdrängt werden. Dies stellten die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung klar heraus. Da der Gesetzgeber hierzu keine Vorkehrungen getroffen hat, müssten die Gerichte im Einzelfall gewährleisten, dass die Verdrängung eines Tarifvertrages für die Betroffenen zumutbar bleibt.
Um das Grundrecht der Koalitionsfreiheit zu schützen hat der Gesetzgeber sicherzustellen, dass einzelne Spartengewerkschaften, wie die GDL für die Eisenbahner, der Marburger Bund für die Ärzte, die Vereinigung Cockpit für die Piloten oder Ufo für die Flugbegleiter nicht aus dem Tarifgeschehen gedrängt werden. Er hat nicht nur ein Verhandeln auf Augenhöhe zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerseite zu gewährleisten, sondern zudem die Entfaltung der Koalitionsfreiheit auch dort zu sichern, wo mehrere Gewerkschaften miteinander konkurrieren.
Was bedeutet das für Neuabschlüsse?
Nimmt der Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Arbeitgebern künftig mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über den Abschluss eines neuen Tarifvertrages auf, so hat der Arbeitgeber (Verband) dies rechtzeitig und in geeigneter Weise bekannt zu geben (§ 4a Abs. 5 Satz 1 TVG). Andere im Betrieb vertretene Gewerkschaften haben so die Möglichkeit, gegenüber dem Arbeitgeber (verband) im Vorfeld der Verhandlungen ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzubringen. Ihr kommt demnach ein Anhörungsrecht zu (§ 4a Abs. 5 Satz 2 TVG). Dadurch soll ein kooperatives Verhalten der Tarifparteien gefördert und Tarifkollisionen im Vorfeld verhindert werden. Ob sich dies in der Praxis durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Konsequenzen für die Zukunft?
Eine zentrale und für die Gewerkschaften als Arbeitskampfparteien essentielle Frage: Dürfen Spartengewerkschaften zukünftig überhaupt noch zum Streik aufrufen?
Auch wenn das Tarifeinheitsgesetz keine Regelungen zum Arbeitskampfrecht enthält könnte die Kollisionsregelung des § 4a TVG dazu führen, dass kleine Spartengewerkschaften überwiegend kein Recht mehr auf Abschluss eines Tarifvertrages haben. Weitere Konsequenz könnte dann faktisch ein Arbeitskampfverbot für Kleingewerkschaften sein, da deren Arbeitskämpfe in der Regel aufgrund der Verdrängungsgefahr unverhältnismäßig wären.
Hierzu kann Entwarnung gegeben werden. Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass das Streikrecht der kleineren Gewerkschaften durch das Tarifeinheitsgesetz nicht angetastet wird. Daran ändert auch die Unsicherheit über die Mehrheitsverhältnisse im Vorfeld eines Tarifabschlusses nichts. Gleichwohl überlassen die Karlsruher Richter die Lösung der Rechtsfragen im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen im Einzelfall den Arbeitsgerichten. Auf diese kommt in Zukunft also zusätzliche Arbeit zu.